Spass ist angesagt. In einer neuen Umfrage unter Jugendlichen mit der Fragestellung, was sie besonders mögen, gaben 99% an: Spass haben.
Warum fahren Hunderttausende nach Berlin, Zürich, München und Duisburg zur Love-Parade, um eine Wochenend-Techno-Party zu feiern? Das Motto des Ganzen hiess: Friede, Freude, Eierkuchen. Es ging nicht um Atomkraft, Bosnien oder Mittelstreckenraketen. “Einfach Fun haben”, heisst die Devise. Das Wort “Fun” wird verwendet, noch gössere Leichtigkeit ist angesagt. 43% aller Jugendlichen bezeichnen sich als völlig unpolitisch. Man ist weder rechts noch links, sondern lustig. Das Motto der Raver: Wir wollen nur Spass haben. Raven heisst toben, und so tobt man sich aus
Der Begriff “Erlebnisgesellschaft” wurde durch die bahnbrechende Studie des Bamberger Soziologen Gerhard Schulze populär. In seinem in vielen Auflagen erschienenen Standardwerk “Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart” beschreibt er auf mehreren hundert Seiten die Veränderungen der westlichen Gesellschaft durch den Erlebnismarkt der Postmoderne. Er sieht das Erlebnis als gemeinsame Klammer einer verzweifelten und vielfältigen Gesellschaft. Erlebnisse sind für ihn innengeleitete, subjektive Eindrücke, z.B. Gemütslagen wie schön, spannend, gemütlich usw. Erlebnisgesellschaft meint die breite Gesellschaftsströmung der inneren Glückssehnsucht.
Spätestens seit Gerhard Schulzes Buch wird die Kultur der Gegenwart gerne als Erlebnisgesellschaft bezeichnet. Was versteht man darunter? Hintergrund dieser Klassifizierung ist die moderne Tendenz des Menschen, um jeden Preis ein schönes, interessantes, angenehmes und faszinierendes Leben führen zu wollen. Leben heisst in unserer Zeit “er-leben”. Nicht Arbeit, Mühe, Leiden, Sparsamkeit, Entbehrung und Pflichtbewusstsein sind mehr Lebensinhalt, sondern Genuss, Zerstreuung, persönliches Glück, gutes Gefühl und Innenorientierung. Streichen wir ein oder zwei Substantive und wir sind beim Baby. Wie Pascal Bruckner beschreibt, Victimisierung und Infantilismus sind zwei weitere Arten der Individualisierung. Der Infantilismus, verbindet den Wunsch versorgt zu werden mit der Gier sofort alles zu haben wie ein Baby. Wenn das “grosse Baby” Victimisierung schreit, sind diese Pseudoverzweifelten nützlich für das System der Zerstörung aller selbständigen erwachsenen Einheiten. Die grossen Babies sind beleidigten Minderheiten, permanente Opfer die jede Gesellschaft aussagen weil sie längst die Mehrheit sind. Die Mehrheit der Deutschen sind für höhere Steuern. Warum ist klar. Das kapitalistische System hat auf originelle Weise die Realität verpackt, durch Freizeitvergnügen und scheinbare Selbstentfaltung, und wer das nicht kann, macht sich als Opfer nützlich.
Die Selbstentfaltungswerte und das Opferdasein haben die Werte des Pflichtbewusstseins uns Selbstverantwortung abgelöst. Diskjockeys bestimmen die Szene, Animateure sind gesuchte Leute, Sozialpädagogen und Entertainer sind “in”.
Der eigentliche Wert dieser Dinge liegt nicht in ihrer Effizienz, sondern in der Vermittlung des eigenen Wohlbefindens oder des Leidens. Über ihre Nützlichkeit lässt sich trefflich streiten. Die Hauptsache ist: man fühlt sich wohl. Zum Gefühl kommt die Erfahrung und das Erlebnis. Man will echte Erlebnisse machen, alles in der Tiefe geniessen. Die moderne Erlebnisgesellschaft fragt nach Grenzerfahrungen ohne Risiko.
Erlebnis ist eine ideale Ware. Sie braucht keinen Platz, denn sie spielt sich im Kopf des Kunden ab. Der Erlebnishunger ist riesig. Seien es Wellnesswochenende, eine künstliche Schneewelt auf dem Münchner Flughafen, das Bungee-Springen oder das Fassadenklettern, das Free-Climbing oder House-Running – wir brauchen immer neue, ausgeflippte Reize, um unseren Event zu erreichen. Die Moderne bietet dem Menschen eine unüberschaubare Möglichkeit an Entscheidungsprozessen und Wahlmöglichkeiten an. Durch die Steigerung des Lebensstandards, die erhöhten Freizeitwerte, mehr Bildung und technischen Fortschritt stehen uns potenzierte Wahlmöglichkeiten offen.
Diese Erweiterung der Wahlmöglichkeiten hat dem Menschen jedoch keineswegs eine grössere Freiheit beschert. Denn wir leben in einem ständigen Entscheidungsdruck, der uns durch die Gesellschaft diktiert wird. Wir müssen entscheiden.
Die Kehrseite dieser Multioptionsgesellschaft ist die Tatsache, dass der Mensch sich dadurch immer mehr mit sich selbst beschäftigt. Er ist ein Narzisst geworden. Die Selbstreflexion des modernen Menschen nimmt rapide Formen an. Schulze schreibt: “Wo Erlebnisse zum beherrschenden Thema werden, beginnt man, sich vor allem mit sich selbst zu beschäftigen” Wir kreisen endlos um uns selbst. Zusätzlich entsteht die Problematik, dass Erlebnisgefühle allein im Inneren des Menschen entstehen. Wir sind innenorientierte Menschen geworden. Der moderne Mensch denkt viel über sich selber nach, sagt man. Tut er das?
“Was tut mit gut?”, war ein Motto in einem Klosterexerzitien. Es war richtig gefragt. Ein schönes Gefühl wird nur zum Teil durch aussengeleitete Eindrücke vermittelt, wichtiger ist die innere Einstellung. Der Partner wurde richtigerweise einbezogen. Trotzdem, alles wurde vor die subjektive Grundfrage gestellt: Ist es für mich schön? Die Freude am Erlebnis muss in sich selbst hergestellt werden. Das führt uns zu einer grundlegenden Erkenntnis: Erlebnisse sind nie allein durch äussere Umstände bedingt, sondern Ausdruck meiner inneren Einstellung und Bedingtheit. Erlebnisse sind Ausdruck einer inneren Reflexion. Erlebnisse werden von Menschen gemacht und als solche Empfunden. Was von aussen kommt, wird durch die subjektive Verarbeitung erst zu einem “echten Erlebnis”. Das war so, mir scheint es gelang uns als Familie nicht, ich hatte gehofft wir als Familie wurden tiefer graben.
Selbst schreckliche Katastrophen werden heute unterhaltend als Erlebnis präsentiert, damit noch ein schönes Gefühl entsteht. Der Schauplatz in Duisburg wird aus der ersten Reihe in sicherer Distanz beobachtet, und uns läuft der Schauer über den Rücken. Schulze nennt diese Verdrehung von Negativereignissen eine “Ästhetisierung” des Alltagslebens. Überhaupt müssen alle Erfahrungen “schön” sein. Negative Erfahrungen werden verdrängt. Die Erlebnisgesellschaft ist nur auf dem Hintergrund einer ausgeprägten Individualisierung der westlichen Welt zu verstehen. Der Einzelne steht im Mittelpunkt, er bestimmt über sich selbst, ist autonom. Der moderne Mensch hat sich selbst entdeckt. Obwohl es Anfänge des Individualismus schon im antiken Griechenland gab, setzte er sich als gesellschaftliches Leitphänomen erst in der Neuzeit und seit kurzem durch. Die Interessen des einzelnen werden hier extrem gegenüber der Gemeinschaft hervorgehoben.
Selbst in Gruppenprozessen beobachten wir Individualisierungsprozesse und umgekehrt. Nicht der alltägliche Kampf ums Überleben steht im Mittelpunkt, sondern das Recht auf Vergnügen. Nicht umsonst titulierte man erst neulich die Deutschen als ein Volk voll Egoisten mit Recht auf Vergnügen. Der moderne Individualismus führt nicht nur zu einer totalen Vereinzelung des Menschen. Im Gegenteil: Individualismus ist heute ein Massenphänomen geworden. Vereine, Familien, Kollegenbeziehungen kollabieren wie Atome in ein einem Neutronen-Stern. Die strukturlose Ansammlungen von Individuen werden zur Masse die leicht manipulierbar ist, und nach Kaufkraft und “Bildung” zweidimensional segmentiert wird.
Die Ungeduld der Erlebnisgesellschaft hat übrigens einen einfachen Grund, auf den uns ein in der Schweiz lebender Soziologe aufmerksam gemacht hat. Peter Gross aus St. Gallen konstatiert: Die Menschen haben die Dimension der Ewigkeit verloren. Für eine christliche Gesellschaft war die Ewigkeit das erhoffte Ziel im Jenseits, wo Glück und Zufriedenheit herrschen werden. Ich muss nicht alle Ziele hier auf Erden erreichen, denn das letzte Ziel liegt im Jenseits. Heute, wo man den Himmel abgeschafft hat, ist der Mensch gezwungen, alle seine Ziele in den paar Jahren hier auf der Erde zu erreichen. Da die Welt sich um mich dreht, wird der Zeitbegriff verändert. “Weltzeit schrumpft auf Lebenszeit zusammen. Zeit wird Frist.” Ich brauche 99 Leben, um alles zu erreichen, was ich erreichen will. Durch den neuen Wohlstand verschiebt sich die Wertebene von den Gebrauchs- hin zu den Genusswerten. Die Masse des Brauchbaren macht das Nützliche zur Nebensache.
Interessant ist auch zu beobachten, wie die Wissensebene Veränderungen unterworfen ist. Wir haben heute eine unüberschaubare Datenmenge von Wissen zur Verfügung. Der Computer hat das Wissensfeld weiter revolutioniert. Das Internet tut ein Übriges. Wissen liegt für jedermann auf der Strasse. Andererseits hat das Allgemeinwissen bedrohlich abgenommen. Wissen ist explodiert, gemeinsames Wissen implodiert. Es gibt kaum noch gemeinsame Wissensebenen. Daher kommt es, dass sich die modernen Menschen nicht mehr verstehen. Man redet und lebt aneinander vorbei, wenn man keine gemeinsamen Wissens- und Kommunikationsebenen mehr hat. “Erlebnisorientierung ist die unmittelbare Form der Suche nach Glück”, schreibt Schulze.
Wir wollen glücklich sein, wir haben ein Recht darauf. Das höchste Ziel ist mein persönliches Glück. Es liegt nicht in der Ewigkeit, sondern im Hier und Jetzt. Wir alle sind Hans im Glück. Glück bedeutet, ein Leben nach seinen tiefsten Wünschen und Vorstellungen führen zu können. Unser grösster Traum heisst: Nichts ist unmöglich. Wo Erlebnisse zum obersten Lebensziel werden, reisst unweigerlich die Sinnfrage auf. “Was macht mich glücklich?”, ist die Frage aller Fragen. Wieder Schulze: “Menschen, die nach oben wollen, haben Mittelkrisen. Menschen, die oben sind, haben Sinnkrisen”
Peter Berger beschreibt in seinem Buch “Sehnsucht nach Sinn: Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit” den Schrei nach Sinn unserer Gesellschaft. Heute bemerkt der Erlebnismensch, dass sein Durst nie gelöscht wird und das Enttäuschungsrisiko bei jedem Erlebnis mitschwingt. Macht mich das Erlebnis wirklich glücklich? Die dauernde Steigerungssucht führt unweigerlich zu einem ständigen Sinndefizit. Erlebnisse geben nur punktuelle Befriedigung. Unsicherheit und Angst vor Enttäuschung sind die beiden klassischen Phänomene eines erlebnisorientierten Lebens und finden sich überall in unserer Gesellschaft.
Mit einem Vietnamurlaub kann man seine Ehe nicht reparieren, der BMW gibt keinen Lebenssinn. Facebook ist kein Garant für tiefe Freundschaft. Vor allen Dingen sind die künstlichen Glückserlebnisse nur Nebenprodukte des Lebens. Die Plastikwelt der Moderne, in der wir uns alle mit Computer und Chipkarten fortbewegen, führt auf ihrer Rückseite zu einer Sehnsucht nach Echtheit und Authentizität. Wir zweifeln angesichts der künstlichen Welten an der Wirklichkeit. Wer sind wir eigentlich? Was sind unsere wirklichen Bedürfnisse? Man verliert auch in einer zeitlosen Gegenwart das Gefühl für die Zeit und die Gegenwart. Die Künstlichkeit unserer Wahrnehmung macht unsicher. So flieht man in den “Authentic-Mythos”, das “Retro” ist angesagt.
Gott ist tot? Ich glaube nicht, es ist wohl so wie Papst Benedikt in Riem sagte: “Es gibt nicht nur die physische Gehörlosigkeit, die den Menschen weitgehend vom sozialen Leben abschneidet. Es gibt eine Schwerhörigkeit Gott gegenüber, an der wir gerade in dieser Zeit leiden. Wir können ihn einfach nicht mehr hören – zu viele andere Frequenzen haben wir im Ohr. Was über ihn gesagt wird, erscheint vorwissenschaftlich, nicht mehr in unsere Zeit passend.Mit der Schwerhörigkeit oder gar Taubheit Gott gegenüber verliert sich natürlich auch unsere Fähigkeit, mit ihm und zu ihm zu sprechen. Auf diese Weise aber fehlt uns eine entscheidende Wahrnehmung. Unsere inneren Sinne drohen abzusterben. Mit diesem Verlust an Wahrnehmung wird aber der Radius unserer Beziehung zur Wirklichkeit überhaupt drastisch und gefährlich eingeschränkt. Der Raum unseres Lebens wird in bedrohlicher Weise reduziert”.
Das Gesamtbild der westlichen Gesellschaft lehrt einem das Fürchten. Der Mensch ohne Ewigkeit sucht taub und blind nach Sinn und erlebt doch nur dauernde Sinndefizite.