Die überwältigende Mehrzahl der Leser war entsetzt über dessen unglaubliche Entgleisung in diesem Video von JJ in der ZEIT und protestierte mit Zeitungboykott und Abmahnungsforderungen. Die Flut der Leserreaktionen reichten von sachlicher Auseinandersetzungen bis zur brillianten Sponti Aktion eines Zeitlesers (“Mooning”-Bild mit selbst sprechenden Pseudonym – JesseDasA***). Wegen der Absurdität des Statements und der Affektiertheit des Vortrags zweifelten viele, so auch ich, dass jemand mit diesem Niveau in einer halbwegs intelligent gemachten Zeitung schreiben darf, bzw. ob er bei der Aufnahme im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war (vulgus: Typing under the Influence). Nun wissen wir es besser, Herrn Jenssen meinte es ernst, er beantwortet aus seiner Deutungshoheit sogar Leserbriefe (natürlich eine im genehme Auswahl). Herr Jessen verwechselt Zivilcourage mit Besserwisserei. Ich halte seine Abqualifizierung von älteren Mitbürgern, für eine Verhöhnung der Opfer von Gewalt. Die Schuldverschiebung von Täter auf die Opfer ist ein Kennzeichen des Faschismus und von totalitären Systemen.Interessanter als Herr Jenssen, und das ist vielen Lesern und auch der FAZ aufgefallen, die am Montag einen Artikel über Herr Jenssens Video schrieb, ist das kulturelle Phänomen des übriggebliebenen, ewiggestrigen alt-68ers. Dieses Video hat kann Kultstatus erreichen, zeigt es doch besser als jede Parodie das je könnte, das Stereotype des selbstgerechten linken Spießers wie damals Alfred das Ekel. Genau so, wie er in bestimmten Bereichen der Gesellschaft (Medien, Politik, Sozialarbeit) vorherrscht und ursächlich für das heutige Ausblenden der Realität in den Medien ist.Als Resortleiter vertritt Herrn Jenssen die Zeit, ich erwartete hier eine offizielle Richtigstellung und Entschuldigung. Wenn Zeitungen Tätern das Wort reden, die 76-jährigen auf dem Boden liegenden Rentnern auf das Gesicht springen, ja ihn töten wollen (“ich töte einen Deutschen”), zeigt das meines Erachtens, das der Artikel von JJ den Minimalkonsens jeder menschlichen Gesellschaft zur Disposition stellt.
Ironisch, bzw. traurig ist, für “Sekundärtugenden,” die Herr Jessen als spießig bezeichnet, wurde Helmut Schmidt von den Linken (Lafontaine) angegriffen. Zynisch ist, der Täter von München, verwendete dieselbe Erklärung, Herr Jessen denselben Slang “Was labert der mich auch an”:Vergleich – O-Ton Herr Jessen:„Man fragt sich doch, ob dieser Rentner, der sich das Rauchen in der Münchner U-Bahn verbeten hat, und damit den Auslöser gegeben hat zu einer zweifellos nicht entschuldigbaren Tat, sicher nur in der Kette einer unendlichen Masse von Gängelungen, blöden Ermahnungen, Anquatschungen zu sehen ist, die der Ausländer, namentlich der Jugendliche ständig zu er leiden hat…“ ergänzt durch die Phrase „ob es nicht auch zu viele besserwisserische deutsche Rentner gibt, die den Ausländern das Leben zu Hölle machen“.Werte und Würdelos.
Wenn Zeitleser Artikel eines Zeitredakteurs kritisiern, gehören dieser Zeitleser nach Ansicht diese Zeitredakteurs zum Internet-Mob. Nun ja, damit muss ich wohl leben. Zum Mob der “rechtsradikalen Mitte” gehörte ja dann auch Erik M. Broder (Spiegel), der Zeit-Chefredakteur, der reflektiert und sachlich über zunehmende Jugendkriminalität schrieb und FAZ Redakteur im Artikel “Junge Männer auf Feindfahrt”.
Schien mir von Anfang an so, dass ältere Redakteure bei der Zeit eine besserer Vertrautheit mit dem Medium Internet erlernen sollten. Allerdings auch mit dem Medium Radio. Aber lesen Sie das heutige Gestammel des “Kulturchefs der Zeit” selbst: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/727382/:
Auszug:
“Jessen: Na, das habe ich ja nicht gesagt.
Brink: In der letzten Konsequenz schon, in diesem einen Satz.
Jessen: Nein! Das ganz bestimmt nicht …
Brink: Wir haben es am Anfang gehört…
Jessen: Nein, ich habe gesagt, dass eine harmlose Bemerkung eines Rentners dann am Ende eben das Fass zum Überlaufen bringen kann. Warum? Weil es ständig solche Bemerkungen gibt. Das ist aber keine Schuldzuweisung an einen Einzelnen.
Brink: In einem Halbsatz schon, deshalb ist ja auch die Aufregung …
Jessen: Nein, ganz bestimmt nicht. Ich bereue es langsam, mit Ihnen zu sprechen! Sehen Sie sich das geduldig an! Ich sage es nicht!”
Was ich vom den Zeitlesern an Informationen bekam, die hier als rechtsradikaler Mob bezeichnet wird, war der erschütternde Bericht des Münchner Hauptschulrektors, der von seinen Schülern geschlagen wurde, der Bericht von Berliner U-Bahnfahrern die keinen Augenkontakt mehr machen, die Berliner AIDS-hilfe die umziehen musste, und die Münchern Statistiken über Intensivtäter; meist mit voller Adresse.
Ist natürlich hart, wenn Berufsschreiber das Monopol die Deutungshoheit an Leser abgeben müssen. Wenn Kulturchefs der Zeit nicht mit der Sprache umgehen können. Wenn Berufsschreiber von oben herab auf uns Leser blicken. Wenn Medien pc gleichgeschaltet sind und Berichterstattung von Meinung verfärbt wird.
Gewalt beginnt nicht mit (versuchtem) Totschlag. Gewalt beginnt mit vielen kleinen, zu Beginn oft noch nicht einmal justiziablen, Regelübertretungen im öffentlichen Raum: Demonstrativ lautes Benehmen, Rauchen im Nichtraucherbereich, Rülpsen und Spucken und allgemein das Verursachen einer für die anderen unangenehmen Atmosphäre. Aus der Feigheit und Ohnmacht der anderen erwächst den Tätern ein Gefühl von Macht.
Wenn die Mehrheit betreten zu Boden blickt, wird die „Dosis“ erhöht, das Verhalten wird aggressiver, einzelne Opfer werden verbal attackiert, es kommt zu demonstrativen Sachbeschädigungen. Jetzt kann man schon von einem Gefühl der (wenn auch noch nicht physischen) Bedrohung sprechen – ohne dass die Täter bislang etwas getan hätten, das einen Richter interessierte.
Die Entwicklung von der Lärmbelästigung über erste Drohungen bis zur Anwendung physischer Gewalt mag beim einzelnen Täter Monate oder Jahre dauern, und nicht alle gehen diesen Weg so weit. Aber viel weniger gingen ihn, wenn sie bereits früh Widerstand spürten. Die Belohnung, das Machtgefühl, fiele dann weg, stattdessen würde man sich bereits für einfache Pöbeleien Ärger einhandeln.
Ein Sprichwort und Buchitel von Hillary Clinton sagt, man benötige ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Für uns bedeutet das: Die gesamte Gesellschaft ist dafür verantwortlich, die heranwachsende Generation auf ihre Werte und Regeln zu verpflichten. Die Regeln dienen dem Zusammenleben in gegenseitiger Achtung und schützen insbesondere die Schwächeren, die Regeleinhaltung im Ernstfall nicht alleine einfordern können. Das „Verdienst“ der 68er ist es, jede Verteidigung dieser Regeln erfolgreich als „spießig“ bis „faschistisch“ diffamiert zu haben. Vor 40, 50 Jahren war es noch allgemein akzeptiert, dass jeder Bürger sich für den öffentlichen Raum und die Heranführung der Jugend an diesen verantwortlich fühlte.